- Chaucer: Die Canterbury-Erzählungen
- Chaucer: Die Canterbury-ErzählungenDer bedeutendste englische Dichter des Mittelalters ist ohne Zweifel Geoffrey Chaucer (* ca. 1340, ✝ 1400). Zumindest zwei seiner Werke besitzen ähnlichen Rang wie jene seiner ungefähr zeitgenössischen Kollegen Boccaccio oder Petrarca, konnten jedoch merkwürdigerweise in Deutschland deren Bekanntheit nie erreichen: die nach Art einer Rahmenerzählung zusammengefassten »Canterbury-Erzählungen« und der in Strophen verfasste, auf dem Mythenstoff um den Trojanischen Krieg basierende Liebesroman »Troilus and Criseyde«.Vor diesen späten, besonders von Boccacciobeeinflussten Meisterwerken verfasste Chaucer Übersetzungen, Gedichte und Traumallegorien, die eher französischen Vorlagen und Vorbildern folgen. Zunächst (wohl zwischen 1361 und 1370) übersetzte er einen Teil des französischen »Rosenroman« und schrieb in der Art Guillaume de Machaults einige »Ballades«. 1369-70 veröffentlichte er das ergreifende »Buch der Herzogin«, in dem er den Tod der Herzogin Blanche, der Gattin seines frühen Förderers Johann von Gent, betrauert. In den Jahren um 1380 folgten die Tierallegorie »Das Parlament der Vögel«, in der drei Adler sehr höfisch um ein Weibchen werben, und die Traumallegorie »Das Haus der Fama«, in der die Rolle des Dichters und die Problematik des Ruhms thematisiert werden.Die vielen tausend Verse eindrucksvoller Dichtung hat Chaucer den knapp bemessenen Mußestunden abgerungen, die ihm seine berufliche Tätigkeit als Diplomat und hoher Beamter im Dienst des englischen Königs übrig ließ. Aufgrund seiner Stellung bei Hof und seiner Kenntnisse des dort vorherrschenden literarischen Geschmacks ist es nicht verwunderlich, dass zunächst höfische Traditionen in seinen Werken eine wichtige Rolle spielen. Doch ist für die Dichtungen seiner mittleren und späten Schaffensperiode eine zunehmend realistische, das Höfische skeptisch relativierende Darstellung bezeichnend. Dass Chaucers großbürgerliche Herkunft (aus einer Familie wohlhabender Weingroßhändler) solche ironischen Brechungen höfischer Konvention erleichtert hat, ist anzunehmen.Humoristische Distanz kennzeichnet bereits die Erzählperspektive seines um 1385 vollendeten Versromans »Troilus and Criseyde«. Dort ist der unsterblich verliebte jugendliche Held Troilus zu einer tragikomischen Figur geworden. Der das Liebespaar beratende Pandarus belächelt, wie der Anglist Walter F. Schirmer formuliert hat, »alle ritterlich-höfische Verstiegenheit«. Und Criseyde ist nicht die unnahbare und anämische Dame der höfischen Tradition, sondern ein menschliches Wesen aus Fleisch und Blut.Chaucers bekanntestes Werk jedoch sind die »Canterbury-Erzählungen« (»Canterbury Tales«), an denen er etwa von 1387 bis 1400 gearbeitet hat. Ihre Beliebtheit bereits in mittelalterlicher Zeit lässt sich an der Zahl der Handschriften ablesen, in denen sie überliefert sind: 83 Kopien sind erhalten - für jene Epoche eine gewaltige Anzahl, die von keiner anderen weltlichen Dichtung des englischen Mittelalters erreicht wird. Zu allen Zeiten haben Welthaltigkeit und Wirklichkeitsnähe dieses Werks die Leser beeindruckt. Sie lernen hier ein Panorama spätmittelalterlichen Lebens kennen, in dem der Autor nicht nur fast alle gesellschaftlichen Gruppen (außer König, Hochadel und Leibeigenen) vorführt, sondern eine Vielzahl literarischer Gattungen, Vers- und Strophenformen souverän zu nutzen weiß.Denn diese abwechslungsreiche Vielfalt - kombiniert mit der individuellen Charakterisierung der zu Wort kommenden Erzähler - unterscheidet die »Canterbury-Erzählungen« von allen anderen Rahmenerzählungen, seien es die berühmten Erzählungen aus »Tausendundeiner Nacht«, Boccaccios »Decamerone« oder welche auch immer.Der von Chaucer zum Auftakt im »Allgemeinen Prolog« vorgestellte Plan des Werkes gibt ihm Gelegenheit, alle möglichen Gesellschaftsschichten zusammenzubringen und sie erzählen zu lassen: Dreißig Pilger treffen sich am 15. April 1387 in einem Gasthof des Londoner Vororts Southwark, um am nächsten Tag zu Pferd nach Canterbury ans Grab des heiligen Thomas Becket zu wallfahrten. Zur Kurzweil wird vereinbart, dass unterwegs Geschichten erzählt werden - von jedem Pilger je zwei auf dem Hin- und Rückweg: insgesamt also 120 Erzählungen. Dieses gewaltige Vorhaben hat Chaucer allerdings nicht verwirklichen können: 22 Geschichten hat er vollendet und zwei weitere zumindest begonnen. Eine Schlussredaktion durch den Autor hat nie stattgefunden - selbst die Reihenfolge der Geschichten ist nicht restlos klar.Doch trotz dieser Unfertigkeit sind die »Canterbury-Erzählungen« ein Meisterwerk der Erzählkunst - aus vielen Gründen. Vom gesellschaftlichen Panorama und der Vielzahl von Versformen und Gattungen war bereits die Rede. Noch mehr Beeindruckendes kommt hinzu. Etwa die Dramatik der Verbindungsstücke, die (nicht regelmäßig) zwischen zwei aufeinander folgenden Erzählungen eingefügt sind. In diesen oft komödienhaft ausgestalteten Szenen kommen die Pilger zu Wort: Sie loben oder missbilligen eine Geschichte - streiten gar, wenn sie sich durch eine Erzählung angegriffen fühlen -, revanchieren sich durch das Vortragen einer gegen den stichelnden Widersacher gerichteten eigenen Geschichte. Der Müller beispielsweise gibt einen Schwank zum Besten, in dem ein verliebter alter Zimmermann gehörnt wird. Daran nimmt der Gutsverwalter, gelernter Zimmermann, Anstoß und stellt seine Berufsehre wieder her, indem er von einem gehörnten Müller erzählt.Oft auch bemerkt der Leser erfreut, wie gut die jeweilige Geschichte zu deren Erzähler oder Erzählerin passt. So trägt der Ritter eine höfische Romanze vor, der derbe Müller einen zotigen Schwank, die damenhaft feine, oft den Tränen nahe Priorin eine larmoyante Legende vom Märtyrertod eines Kindes. Überhaupt ist bemerkenswert, wie fein ziseliert die Charakterzeichnungen sind, die Chaucer von seinen literarischen Geschöpfen, den Pilgern, anfertigt. Blasse Typen ohne Konturen treten dem Leser weit seltener gegenüber als »runde Charaktere« mit individualisierenden Eigenschaften. So hat Chaucer etwa die Frau von Bath mit einer Fülle solch besonderer Merkmale ausgestattet und das Porträt einer unverwechselbaren, zeituntypisch früh emanzipierten Frau geschaffen, die all dieses ist: energisch, selbstständig, temperamentvoll, reiselustig, liebestoll - und nach viermaliger Witwenschaft als Vierzigjährige mit einem halb so alten Studenten verheiratet. Dass sie dementsprechend aufmüpfig und selbstbewusst redet, versteht sich von selbst.Für zusätzliche Lesefreude sorgt Chaucer, indem er sich selbst in die Schar der nach Canterbury Wallfahrenden einreiht und diesen Pilger Chaucer nicht nur den Rahmen und die Verbindungsstücke erzählen lässt, sondern ihm für zwei Geschichten das Wort erteilt. Dabei posiert der Autor selbstironisch als naiver, wenngleich wohlwollender Zeitgenosse und unbeholfener, altmodischer Erzähler. Genialer Höhepunkt solch ironischer Selbsterniedrigung: Der als Schiedsrichter und Reiseleiter fungierende Gastwirt bringt Chaucer mit rüden Worten zum Schweigen, als dessen Geschichte - eine von ihm ernst gemeinte, tatsächlich jedoch parodistische Romanze - gar kein Ende nehmen will. Dem Humoristen Chaucer fällt es nicht schwer, sich selbst belächelnd in der »Menschlichen Komödie« der »Canterbury-Erzählungen« aufzutreten: Nichts Menschliches ist ihm fremd.Prof. Dr. Theo StemmlerEnglische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hans Ulrich Seeber. Stuttgart u. a. 21993.Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, herausgegeben von Klaus von See. Band 7: Europäisches Hochmittelalter. Wiesbaden 1978—85.
Universal-Lexikon. 2012.